Martin Wanko [11•02] |
KEN a crime story 5 Ich fühle mich befreit, alles erledigt für Ken, kaufte sogar Windeln, in Übergröße. Vor mir die Zeitungsverkäufer, alle Tageszeitungen auf einen Schlag. Über Ken könnte frühestes morgen berichtet werden, doch warum sollte man? Ken ist in sicherem Gewahr. Wie schon gesagt, wo keine Leiche, dort maximal ein Vermisster, höchstens Mutmaßungen, aber keine Beweise. Dennoch betrachte ich die Crime - Pages. Eine Frau auf Seite 5, scheußlicher Zustand, ihre Titten sind abgesägt worden, mit einer Handsäge. Vierundzwanzig Stunden soll sie schon tot sein, ihre Haut ist graubläulich verfärbt. Ich denke an Ken, ob seine Haut auch schon diesen Zustand erreicht hat? Vermutlich, ist ja auch schon über vierundzwanzig Stunden tot. Befinde mich nun vor der Hauptbrücke. Der Fluss teilt die Stadt in zwei Teile, arm und reich. Ich gehe auf die Brücke, bleibe stehen, fühle mich einsam, eine starke Brise treibt mir Tränen ins Gesicht. Kurze Windstille, kein Laut mehr wahrzunehmen, als ob der Verkehr in den Erdboden versunken wären. Werfe das Bündel Zeitungen über das Brückengeländer, der Einsamkeit entgegen. Keine Ahnung, wie es dazu kam, doch erkenne ich in den flatternden Blättern einen Satz: MÖRDER, WIR WISSEN, WER DU BIST! Ich stoße mich von der Brüstung ab, verliere das Gleichgewicht, falle über den Gehsteigsims, Vollbremsung, der Geruch von verbranntem Gummi, reiße die Augen auf. Vor mir ein schwarzes Kabrio, die Fahrerin: Die Frau aus meinem Traum. Unsere Blicke treffen sich. Ich versuche aufzustehen, stolpere abermals, bleibe wie ein Schuljunge, der zu Unerreichbarem emporblickt, auf der Gehsteigkante picken. Meine Unfähigkeit kostet ihr ein mitleidiges Lächeln, zündet sich eine Zigarette an, gelassen, kein weiteres Auto in Sichtweite. Was will die von mir?! Sie starrt mich an, sagt kein Wort, Stille. Eine Frage jagt mir durch den Kopf. Was ist Traum, was ist Wirklichkeit? Erwache ich nun zu Hause, schweißgebadet, alles nur geträumt, ist es das!? Aß ich nun in Wirklichkeit mit ihr Tiramisu, und ist der Traum der, dass ich danach schweißgebadet aufwachte, träume ich also jetzt, sind meine Einkäufe nur Fiktion? "Glaub ja nicht, dass du ... ", kommt über ihre Lippen, ein halbfertiger Satz, Drohung inbegriffen, Psychoterror total. Ich konzentriere nun all meine Kräfte auf eine Aktion: Aufstehen. Schaffe es, stehe nun vor ihr. Einige Passanten betreten die Brücke, sie lässt den Motor aufheulen. "Glaub das ja nicht ... " wiederholt sie die Drohung, legt einen Gang ein, zischt ab. Ihre Nummerntafel soll mir noch lange im Gedächtnis bleiben, sehe sie noch heute vor mir: CAVE, Käfig, eingesperrt, beengt, nicht fliehen können. Drehe mich um, vor mir hält ein Taxi, der Fahrer öffnet das Fenster, ich höre ein verbrauchtes Lachen. Er hebt sein Hemd. Eine Fünfundvierziger, eingepfercht zwischen Wampe und Hose, genießt mein Hauptaugenmerk. Den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden, steige ich ein. Bedrohliche Stille, geladene Atmosphäre. Woher weiß der Taxi-Fahrer, wo ich wohne, halten wir doch zweifelsohne vor meinem Apartment. Er winkt mich aus dem Kübel, öffnet relativ umständlich die Beifahrertüre. Hey Mann, lass die Finger von mir, aber rasch! Sonderbar, die erste Freifahrt meines Lebens. Im Kopf noch sein fettes Lachen, betrete ich das Stiegenhaus, benütze die Treppe, nicht den Fahrstuhl, muss mich Ken langsam nähern. Im Halbstock angelangt, ein kurzer Blick aus dem Panorama-Fenster. Einige Raben und Krähen sitzen auf der Hochspannungsleitung. Ich setze mich. Wer war die Frau, wer war der Taxi-Fahrer, warum brachte er mich nach Hause? Weiß Gott warum, jedoch ist eines gewiss: Sie wissen, wo ich wohne, das haben sie mir klar gemacht. Da ich mit diesen äußerst fragwürdigen Menschen vermutlich weiter zu tun haben werde, nenne ich sie die Organisation. Zwei ihrer Handlanger kenne ich bereits: Die Frau, ich nenne sie die Cabrio-Frau, und den Taxi-Fahrer, er soll mir als der Driver in Erinnerung bleiben. Die Farbenwelt außerhalb, himmelfarbenes Graublau, passt sich meinem Befinden an. Kens Anblick wird lebendig sein, der Anblick eines Toten lebendig. Verwandlungen. Haare und Nägel wachsen, rötliche Druckstellen auf seinem Rücken, heben sich von der ansonsten graubläulichen Hautfläche ab, Totenflecken. Die Raben vor dem Fenster geben artspezifische Laute von sich, kann sie nicht hören, doch bei genauerer Betrachtung sehe ich Schnabelbewegungen. Das Licht im Stiegenhaus erlischt. Nur das Rasseln meiner Lunge nehme ich wahr. Die Verdunkelung nimmt ihren Lauf, das Schwarz der Vögel hebt sich immer weniger vom Himmel ab. Ich stehe auf, meine Kniegelenke krachen, ob die von Ken auch krachen? Muss ich testen, die von Plastik-Ken krachen, heute schon angetestet. Drei Schritte vorwärts, mein glühender Schädel kühlt sich am Fensterglas. Ich werde This is Hardcore von Pulp auflegen, zu Ken gehen, mich an seine Schulter legen, vielleicht weinen, traurig sein auf alle Fälle. Einer der Vögel hebt ab, die anderen folgen ihm, es ist Nacht. Fühle mich krank, benütze nun doch den Aufzug. Taste meinen Anzug ab, kurzes Entsetzen: Habe das Pflegeset für Ken angebaut. Nur die Puppe ist mir geblieben, nehme sie heraus, großes Entsetzen: Ken ist kopflos! Zwischen dem Schneider und der Taxi-Fahrt hat Ken seinen Kopf verloren. Die Groteske bringt mich zum Schmunzeln, Ken schaut ohne Kopf vollkommen aus, so unvollkommen vollkommen. Ich suche, der Plastikschädel ist nicht zu finden. Ken besitzt einen Hohlraum, was für eine Pleite, früher war der Kerl massiv. Greife über die Narben, Ken wurde aus zwei Hälften gegossen, unter Druck und Hitze zusammengeschweißt. Das Halsloch ist winzig, nicht einmal mein kleiner Finger passt hinein, stecke Ken an meinen Mund, docke ihn an, lasse meine Zunge, also Ken im Spiegel baumeln. Spaß, denke ich. Auf was ich immer aus war, war Spaß. Alles, was ich jetzt haben will, ist Ruhe. Ich lache, die Zunge zuckt, Ken fliegt zu Boden. Ich greife nach der Türschnalle, eine gedankenlose Tat mit überraschendem Ausgang. Die Türschnalle ist leicht klebrig. Die klebrige Substanz bleibt an meiner Hand picken. Kann es sein, dass - nein, ich will diesen Gedanken nicht fertig denken. Das Licht im Flur erlischt noch ehe ich einen Blick auf meine Hand werfen kann. Ich bin gerettet. Angst erwacht. In meinem Apartment muss sich etwas abgespielt haben, von dem ich nicht die geringste Ahnung habe. Ehrlich gesagt, möchte ich es auch nicht wissen. Meine Augen sind noch immer auf die Tür gerichtet, horizontal. Je schneller ich verdufte, desto besser. Meine Augen würden sich an die Dunkelheit gewöhnen und so der Neugier eine Chance geben. Das Pflegeset, der Ken-Kopf, und überhaupt ... ein Abschlussdrink, one for the road, vielleicht auch zwei, drei, who knows. Die Bar, unten an der Ecke, das wäre doch was! Eine Türe öffnet sich, tippe auf Parterre, Hauseingang, Licht, zu spät - mein Blick richtete sich wie gebannt auf die Türklinke, sie ist blutverschmiert. |